Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik

"Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik", General a.D. François Clerc, Pskow den 25. April 2003. Online am 12. Juni 2003.

Im Mai vergangenen Jahres (2002) hat Henri de Grossouvre sein Buch « Paris-Berlin-Moscou » veröffentlicht und damit eine Vision vorweggenommen, die durch die Politik gegenüber dem Irak bestätigt scheint. Seither gilt der junge Autor namentlich in Frankreich als weitsichtiger Analytiker europäischer Politik."

R.A Bernd Kunth & C. v. der Groeben
Der Verein "Paris Berlin Moskau"

Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik
General a.D. Francois Clerc
Pskow, den 25.4.2003
1. Wie sieht die Weltbühne heute aus?
Seit dem Ende des Kalten Krieges gibt es keine bipolare Welt mehr. Gleichzeitig hat sich die Globalisierung weiter beschleunigt. Die Welt verändert sich: Sie wird multipolar. Eine neue Weltordnung zeichnet sich ab. Neue Ausgleichspole entstehen, wie z.B. Russland, China und die Europäische Union. Letztere hat jedoch noch kein klares Profil gewonnen und auch noch nicht klar ihre Interessen definiert. Die entscheidende Frage für uns Europäer ist: Welche Rolle wollen wir in der Weltpolitik spielen? Unsere Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik ist derzeit noch äußerst zurückhaltend und schüchtern. Dabei sollten wir uns bereits heute als Kontinent denken und mit Begriffen wie dem Gleichgewicht argumentieren. Es kann nicht sein, dass die internationale Politik nur von einer Macht bestimmt und durch einen Weltpolizist reguliert wird.
2. Wo sind die Bedrohungen?

Die größte Bedrohung kommt derzeit vom Terrorrismus - man spricht von Hyperterrorismus -, der deshalb besonders schwer zu bekämpfen ist, weil seine Urheber fanatisch handeln und eine ganz andere Logik bevorzugen, als wir sie aus den Zeiten des Kalten Krieges gewohnt sind.
Der Terrorismus hat die Bedeutung der geographischen Grenzen relativiert und agiert weltumspannend. Wir sind alle von dieser Gefahr direkt betroffen und daher gezwungen, zusammenzuarbeiten.
Andere Bedrohungen sind:

-die Verbreitung von ABC-Waffen,
-die Mafia-Netzwerke, die die Weltwirtschaft gefährden,
-die Völkerwanderungen, die meistens von Süd nach Nord erfolgen,
-die neuen Formen des Nationalismus, die in der Regel mit Patriotismus nichts zu tun haben,
-der religiöse Fundamentalismus -
und ich denke hier vorrangig an den Islam -, der für mich die größte Bedrohung für das alte Europa darstellt, vor allem auch deswegen, weil unsere Bevölkerung abnimmt und wir nicht mehr genügend Vertrauen in unsere eigenen humanistischen Werte haben.

3. In welchem Rahmen und nach welchem Prinzipien soll die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik gestaltet werden?
Der Rahmen für die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik ergibt sich ausschließlich aus den Prinzipien der Charta der Vereinten Nationen.
Für die europäischen Streitkräfte gibt es heute nur noch zwei Einsatzmöglichkeiten:

-im Rahmen der NATO für die Landesverteidigung - eine Einsatzform, die sehr unwahrscheinlich geworden ist,
-im Rahmen humanitärer Einsätze zur Aufrechterhaltung bzw. Wiederherstellung der friedlichen Ordnung.

Das Recht zur Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates ist sehr umstritten und sollte daher mit grosser Vorsicht gehandhabt werden. Generell gilt, dass militärische Einsätze heute nur noch in einem multinationalen Rahmen stattfinden können.
4. Die Struktur der Streitkräfte muss angepasst und überdacht werden
Nicht zuletzt aufgrund der Erfahrungen auf dem Balkan wissen wir, dass wir für unsere Streitkräfte neue Kapazitäten und Fähigkeiten entwickeln müssen:

-eine hohe strategische Verlegungskapazität,
-eine schnelle, weltweite Reaktionskapazität,
-Aufklärungs-, Überwachungs- und Meldekapazitäten, so dass eine Lage jederzeit richtig beurteilt werden kann,
-Kapazitäten zum Einsatz in einem multilateralen Rahmen. Das bedeutet: Aufstellung integrierter Stäbe mit gemeinsamer Verfahrenstechnik.

Das alles verlangt auch, dass multinationale Grossverbände (Korps) schon in Friedenszeiten gemeinsam trainieren müssen. Diese Grossverbände sollen "trennbare, aber nicht getrennte Kräfte sein".
Schließlich stellt sich auch die Notwendigkeit, Fähigkeiten für länger dauernde Einsätze zu schaffen (sechs Monate und darüber hinaus), eine Aufgabe, die nicht ohne Auswirkungen auf die Wahl zwischen einer Berufs- oder Wehrpflichtigenarmee bleiben dürfte.
Die Schaffung neuer Kapazitäten ist jedoch nur die eine Seite. Auf der anderen Seite müssen auch die Entscheidungsprozesse über den Einsatz der Kapazitäten klar und eindeutig sein. Was den Einsatz von multilateralen Kräften anbetrifft, so sollte dieser in erster Linie in der Verantwortung des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen liegen. Dabei sollten zeitlich begrenzte Koalitionen zulässig sein. Der Gebrauch des Vetorechts ist nicht wünschenswert.
Was die NATO betrifft, so sollte die transatlantische Verbindung zwischen Europa und Amerika gewahrt bleiben. Allerdings bedeutet die Treue zur Allianz nicht, damit einer anderen Macht unterstellt zu sein. Aus diesem Grund sollte innerhalb der NATO eine europäische Verteidigungsidentität entstehen, also ein europäischer Pfeiler aus trennbaren, aber nicht getrennten Kräften.
Die NATO-Erweiterung - obwohl ein schwieriges Thema - ist wünschenswert. Die dabei zu beschreitenden Wege können verschieden sein (Partnerschaft, Kooperationsabkommen usw.). Auf jeden Fall muss sich die NATO umfassend reformieren, mit dem Ziel, der bewaffnete Arm der Vereinten Nationen zu werden. Die NATO kann also nicht länger als Verteidigungsallianz bestehen, sondern muss zu einer Sicherheitsorganisation umgestaltet werden. Dabei darf nicht so vorgegangen werden, dass die Aufgaben zwischen den Partnern nach dem Prinzip aufgeteilt werden, dass der eine für die Logistik, der andere für die Truppenverlegung und der nächste für die Aufstellung von Bodentruppen zuständig ist. Notwendig ist vielmehr, dass jeder Partner, unter Wahrung seiner vollen Souveränität, seine Kräfte der Allianz zur Verfügung stellt und in der Lage bleibt, bei Bedarf seine Truppen auch autonom einzusetzen, ohne zusätzliche Mittel oder Kräfte der NATO anfordern zu müssen, die meist einem amerikanischem Einsatzvorbehalt unterliegen. Die NATO soll nicht eine Reserve von Kampftruppen sein - eine Werkzeugkiste für die "lead nation".
Was die Erweiterung der NATO anbetrifft, so sollten wir uns über deren Ziel nicht täuschen. Es handelt sich dabei um ein Angebot zur Partnerschaft, das ausgewogen sein soll im Sinne der Charta der Vereinten Nationen und dem Erhalt von Sicherheit und Frieden dient.
Natürlich gibt es für Europa über die bisher genannten Themen hinaus noch weitere Herausforderungen, die es anzunehmen gilt. Die EU-Staaten sind heute nur noch mittlere oder kleine Mächte und keiner von ihnen kann sich allein die notwendigen Waffen und Ausrüstungen leisten. Eine enge Kooperation ist daher zwischen uns allen zwingend erforderlich. Paris und Berlin haben damit bereits begonnen, wenngleich auch nur langsam und zögerlich.
In diesem Zusammenhang scheint es mir sehr wichtig - und ich sage dies mit voller Überzeugung - eine strategische Partnerschaft zwischen der EU und Russland zu schaffen. Eine andere Aufgabe für Europa und Russland sehe ich auch darin, das militärische Ungleichgewicht im Vergleich mit Amerika auszubalancieren, so dass wir über eine glaubwürdige Sicherheitspolitik verfügen. Dies bedeutet eine Erhöhung der finanziellen Mittel für unsere Streitkräfte. 3 % des BIP scheint mir der für Verteidigungsausgaben vernünftige Prozentsatz. Darüber hinaus wäre auch ein gemeinsamer europäischer Haushalt für Rüstungsbeschaffungen sinnvoll, wobei jeder Partner dort 10-15 % seines Verteidigungshaushalts einzahlen und dann proportional an den gemeinsamen Rüstungsprogrammen beteiligt werden könnte. In diesem Vorhaben hätte auch Russland seinen Platz.
General a.D. François CLERC
Pskow, den 25.4.2003