Deutsch-französische Geopolitik : Sicherheit, Grenzen und Diplomatie im erweiterten Europa

Deutsch-französische Geopolitik : Sicherheit, Grenzen und Diplomatie im erweiterten Europa

Jean-Pierre Froehly*
Die deutsch-französische Agenda der Zukunft wird ohne Zweifel durch die europäische Außenpolitik geprägt sein. Die aktuellen Debatten tragen noch viel zu wenig dem Umstand Rechnung, dass es für Deutschland und Frankreich heute darauf ankommt, gemeinsame Ansätze und langfristige Visionen zu konkreten außenpolitischen Fragestellungen in Europa, dessen Peripherie und in der Welt zu finden. Diese Projektion des deutsch-französischen Dialoges stellt eine natürliche Konsequenz des „Endes der Nabelschau“ dar, das zu einem neuen offenen, die europäische Außenpolitik vorbereitenden Bilateralismus zwischen Paris und Berlin führt.1)

Eine erste große Herausforderung an die deutsch-französische Diplomatie stellt sich in Mittel- und Osteuropa, das als strategisch bedeutsamste Region Eurasiens zu werten ist. Wenn Deutschland und Frankreich nicht darüber nachdenken, welches Europa in welchem regionalen Umfeld sie bauen wollen, kann Schaden und Instabilität von Westeuropa nicht ausreichend abgewendet und der Bau des „Hauses Europa“ nicht zufriedenstellend vollendet werden. Die Formel „der Weg ist das Ziel“ des klassischen westeuropäischen Integrationsprozesses ist mit europäischer Außen- und Geopolitik des 21. Jahrhunderts inkompatibel. Ein solcher Denkprozess muss mit der Frage beginnen, wie Sicherheit, Grenzen und Diplomatie im erweiterten Europa definiert und ausgestaltet werden sollen. Doch sind Definitionen und Perzeptionen zu diesen Begriffen in Deutschland, Frankreich und in den MOE-Staaten meist unterschiedlich.

Welches Europa soll es sein ?
Die Erweiterung der EU stellt sowohl die Ausdehnung des politischen Projektes der europäischen Integration als auch ein außenpolitisches Instrument der westeuropäischen Staaten dar. Wie Michel Foucher richtig hervorgehoben hat, ist das heutige Europa durch das Zusammenfallen eines „Raumes“ und eines „Projektes“ gekennzeichnet, verfügt Europa nicht ausschließlich

über eine geographische Dimension im engeren Sinne, sondern stellt zunächst eine politische Vision dar. Dies bestimmt auch die anstehenden Erweiterungen des (sicherheits-) politischen Europa, deren Ablauf und Ausgestaltung erhebliche Auswirkungen auf Mittel- und Osteuropa einschließlich Ukraine und Russland haben werden. Obwohl die aktuellen Beitrittskandidaten konsensual als „Mittel- und Osteuropäische Staaten“ bezeichnet werden, geht es für die EU langfristig um die „Europäisierung“ der gesamten Region und somit um die Überwindung der mit den geographischen Begriffen verbundenen und historisch belasteten Konzepte „Mitteleuropa“ (als von Deutschland dominierter Raum) und „Osteuropa“ (als in russische und deutsche Einflusssphären aufgeteilter Raum).

Ziel der EU muss die Schaffung eines westlichen und „europäischen“ Zentraleuropa (Europe centrale) sein, in dem auch die Ukraine, Weißrussland und schließlich Russland ihren Platz haben werden. Der Europäische Rat von Helsinki im Dezember 1999 hat die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen nunmehr auch mit Rumänien, der Slowakei, Bulgarien, Litauen, Lettland und Malta beschlossen. Somit hat sich das „Regattamodell“ gegenüber dem „Gruppenmodell“ endgültig durchgesetzt. Anstatt vorerst nur den Staaten einer bestimmten Gruppe den Beitritt zu ermöglichen, haben nunmehr fast alle MOE-Staaten die Möglichkeit, durch raschen Abschluss der Verhandlungen mit Brüssel der EU beizutreten. In der heutigen Debatte zeichnet sich jedoch ab, dass es dennoch verschiedene Beitrittswellen geben wird und zum Beispiel Bulgarien und Rumänien vorerst nicht mit einem raschen Beitritt rechnen können. Im Hinblick auf das Ziel der „Europäisierung“ der Region und der Sicherung von Stabilität sollte die Möglichkeit eines „Big Bang“, also die Aufnahme sämtlicher Beitrittskandidaten auf einen Schlag, heute jedoch neu erörtert werden. Eine sukzessive EU-Osterweiterung könnte die Errichtung neuer „harter Grenzen“ in der Region zur Folge haben und somit nicht nur eine Verschiebung der Grenzen der EU nach Osten, sondern eine Verschärfung der Regionalgrenzen bedeuten.
Grenzkonzeptionen und Sicherheit
In klassischen Sicherheitskonzeptionen, die den Schutz vor zwischenstaatlichen Bedrohungen zum Ziel haben („Makro-Sicherheit“), spielen Grenzen eine wichtige Rolle. Mit dem Begriff der „Makro-Sicherheit“ sind „harte“, relativ undurchlässige (Sicherheits-)Grenzen eng verbunden. Doch auch in den aktuellen Debatten um Bedrohungen durch neue Akteure (zum Beispiel transnationale Kriminalität) werden „harte“ Grenzen als Instrument der Sicherheit hervorgehoben. Doch gerade in Zentraleuropa dienen „weiche“, relativ durchlässige Grenzen als ein Instrument der Stabilität und somit von „Makro-Sicherheit“.

Nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums war es vor allem Deutschland, das aus grundsätzlichen sicherheitspolitischen Überlegungen für die Erweiterung der EU und NATO nach Osten eintrat. Als Grenze von NATO und EU waren es Argumente der „Makro-Sicherheit“ für Westeuropa, die den deutschen Wunsch nach Stabilität in der Region begründet haben.
Mit nunmehr erfolgter Ausdehnung der NATO nach Polen, der tschechischen Republik und Ungarn scheinen angesichts der bevorstehenden EU-Beitritte heute Argumente der „Mikro-Sicherheit“ in den Vordergrund getreten zu sein: Angesichts der „Privatisierung der Bedrohungen“ geht es nunmehr um die Frage, wie transnational organisierte Kriminalität sowie illegale Migration bei einer EU-Erweiterung verhindert werden können, was - im Sinne des Abkommens von Schengen - den Wunsch nach „harten“ EU-Außengrenzen begründet. Nur die Errichtung harter Außengrenzen, so die Debatte, ermögliche schließlich „weiche“ EU-Innengrenzen.

Für die Stabilität der Region birgt dies jedoch eine Reihe von Problemen, die sich in jenem Falle, in dem Staaten vorerst keine EU-Mitglieder werden, noch verschärfen: Zum einen ist fehlende Gegenseitigkeit bei der Erweiterung des Schengen-Raumes zu nennen: Der „acquis frontalier“ des Schengen-Abkommens stellt Bestandteil des „acquis communautaire“ ohne die Möglichkeit eines „opting-out“ für die neuen EU-Staaten dar. Deutschland und Österreich scheinen jedoch auf Übergangszeiten für den Personenverkehr zu bestehen, was die MOE-Staaten zur Errichtung harter Außengrenzen zwingt, ohne nach Westen vom Schengen-Raum profitieren zu können.

Des weiteren droht die Errichtung harter Außengrenzen die heute bestehenden „weichen“ Grenzen innerhalb der Region aufzuheben. Diese stellen jedoch für die MOE-Staaten selbst ein Element zur Gewährleistung ihrer „Makro-Sicherheit“ dar, die über transnationale Kooperation und Grenzverkehr zur regionalen Stabilität beitragen: Für Ungarn betrifft dies die Minderheiten in Rumänien, der Slowakei und der Ukraine. Für die tschechische Republik geht es um den Handel mit der Slowakei. Polen hat ein Interesse, die Kooperation mit der Ukraine („strategische Partnerschaft“) und Weißrussland aufrechtzuerhalten.

Die Konsequenzen der Übernahme des „acquis frontalier“ scheinen also aus heutiger Sicht inkompatibel mit regionaler Integration zu sein und drohen in Zentraleuropa einen „papiernen Vorhang“ zu begründen. Der Vertrag von Rom spricht von der Eliminierung der Grenzen, die Europa spalten. Dies gilt umso mehr, als die Kausalität von Grenzkontrollen und Prävention transnationaler Kriminalität alles andere als systematisch ist. Heute muss es also darum gehen, unterschiedliche Perzeptionen von Makro- und Mikrosicherheit miteinander in Einklang zu bringen.

Makro-Sicherheit für Zentraleuropa

Die Staaten in Zentraleuropa streben eine Befriedigung ihres Sicherheitsbedürfnisses zum einen durch eine bestimmte Konzeption „weicher“ Grenzen, zum anderen jedoch durch den Beitritt zur NATO an. Problematisch ist hier, dass sich die künftigen Grenzen der EU nicht notwendigerweise mit jenen der NATO decken werden. Insbesondere für die baltischen Staaten, aber auch für die anderen MOE-Staaten gilt, dass diese nicht in einer makro-sicherheitspolitischen Grauzone belassen werden dürfen. Unabhängig vom EU-Beitritt haben diese Staaten in ihrer Perzeption ein Bedürfnis nach Sicherheit, das die EU in ihrer heutigen Form nicht liefern kann. Eine weitere Ausdehnung der NATO erscheint angesichts der sich abzeichnenden außenpolitischen Orientierungen der USA nicht wahrscheinlich und aus europäischer Perspektive angesichts russischer Zurückhaltung nicht unbedingt als sinnvoll.

Ein erweitertes Europa kann sich jedoch kein sicherheitspolitisches Vakuum leisten. Die Antwort könnte in der „Europäisierung“ der europäischen Sicherheitsordnung liegen. Angesichts russischer Befürchtungen vor allem gegenüber den USA (und nicht gegenüber Europa) sowie angesichts einer sich im Aufbau befindlichen Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik kann die EU mittelfristig Makro-Sicherheit liefern: Eine Lösung durch den Brüsseler Vertrag, die auf eine Ausdehnung der Beistands-Verpflichtung der WEU hinausläuft, könnte geeignet sein, den Kern der Sicherheitsordnung eines erweiterten Europa darzustellen. Dieses ist als mittelfristige Perspektive zu verstehen, denn die EU möchte heute noch keine „Versicherungspolice“ anbieten, sondern bereitet sich eher auf „Feuerwehrmissionen“ der Petersberg-Aufgaben vor.
Deutsch-französische Diplomatie in Zentraleuropa
Das erweiterte Europa wird ein Raum multi-funktionaler Grenzen sein: Zum einen erlauben Grenzen den Schutz vor dem Nachbarn, zum anderen aber auch die Kooperation mit dem Nachbarn. Für Mittel- und Osteuropa gilt dies ganz besonders aufgrund des multi-ethnischen Charakters und aufgrund der besonderen Beschaffenheit der Nationalismen in der Region. Beide Funktionen sind untrennbar miteinander verbunden. Eine europäische Diplomatie im erweiterten Europa muss der Tatsache Rechnung tragen, dass „weiche Grenzen“ Träger von Identität, Werten und Solidarität sein können und diese Staaten nach dem Zerfall des Sowjetimperiums ihre europäische Identität, europäische Werte und eine europäische Solidarität erst haben wiederfinden müssen.

So bedeutet für die MOE-Staaten der EU-Beitritt eine Westbindung im Gegensatz zum Begriff eines in der Geschichte von Russland dominierten „Osteuropa“, aber auch eine Westbindung im Gegensatz zum Begriff eines in der Geschichte zwischen Deutschland und Russland aufgeteilten „Mitteleuropa“. Durch diese geschichtliche Erfahrung können die MOE-Staaten selbst zur Bewältigung der drei großen unmittelbaren Herausforderungen Europas beitragen: Zum einen die „Europäisierung“ des post-sowjetischen Raumes im Hinblick auf die Ukraine, Weißrussland und die Region um das Kaspische Meer. Des weiteren die „Europäisierung“ von Russland selbst, das heute als Großmacht zwar nur über begrenzten Einfluss, aber im Sinne von „neuen Gefahren“ und vor allem durch seine geschwächten Staatsstrukturen über ein gewisses Risikopotenzial verfügt.

Drittens geht es um die „Europäisierung“ des Balkans, wobei es zwischen einem Kern der Balkanstaaten und den Nachbarn der Peripherie zu unterscheiden gilt. Die Bewältigung dieser Herausforderungen wird jedoch nur durch verschiedene Diplomatien variabler Geometrie möglich sein, die über den Ansatz eines Europa als Wirtschafts- und Sozialraum hinausgehen müssen. Deutschland und Frankreich müssen sich der Tatsache bewusst werden, dass die MOE-Staaten - trotz gewisser Rivalität um die Führerschaft bei den Beitrittsverhandlungen - kein Interesse daran haben, nach einem erfolgten EU-Beitritt die Tür hinter sich zu schließen und eine europäische Perspektive für ihre östlichen Nachbarn zu verhindern.
Neue Formen der Konzertation
Erstens: Als Instrumente einer deutsch-französischen Diplomatie können informelle Konzertationsformen wie der „Weimarer Trialog“ dienen: Die Abstimmung zwischen Deutschland, Frankreich und Polen wird mit dem EU-Beitritt Polens an neuer Dynamik gewinnen. Sie könnte im erweiterten Europa die Rolle eines „Weimarer Motors“ einnehmen und eine Brücke zwischen West- und Zentraleuropa bilden. Heute bietet sich die Möglichkeit, das Forum in Sinne der Formel „Trialog plus“ fallweise auszudehnen, um die „Ostpolitik“ Polens zu begleiten: Dies gilt für das Verhältnis zu Litauen, Weißrussland und der Ukraine, die über Polen als Partner in „Nord-Zentraleuropa“ die Annäherung an Europa suchen.

Zweitens: Eine europäische Konzertation mit Russland wird unerlässlich bleiben. Deutschland und Frankreich sollten die Chance nach dem Amtsantritt Wladimir Putins heute nutzen, um die europäische Architektur gemeinsam mit Russland neu zu gestalten. Institutionalisierte deutsch-französisch-russische Konsultationen könnten die europäische Einbindung Russlands erleichtern. Der Dialog muss Moskau vermitteln, dass die Schaffung eines „europäischen Zentraleuropa“ nicht gegen Russland gerichtet ist, sondern nur unter Beteiligung Russlands gelingen kann. Sicherheitspolitische Überlegungen müssen diesem Umstand Rechnung tragen, auch gegenüber den baltischen Staaten. Eine Regionalordnung, die auf europäischen Werten beruht, wird das Dilemma „der Westen möchte Russland nicht verlieren, Russland möchte die baltischen Staaten nicht verlieren“ auflösen.

Drittens: Obwohl der Balkan aufgrund seiner Konfliktstruktur noch weit von der Dynamik des „neuen Zentraleuropa“ entfernt ist, befindet er sich eindeutig im Bereich der EU-Verantwortung. Der französische Vorschlag eines EU-Balkan-Gipfels wird helfen, europäische politische Visionen für die „Europäisierung“ dieser Region zu schaffen.

Die Stabilität der mittel- und osteuropäischen Region wird nicht unwesentlich von der Fähigkeit der Europäischen Union abhängen, die Osterweiterung ohne Diskriminierung und ohne die künstliche Errichtung neuer „harter Grenzen“ zu meistern. Der deutsch-französische Dialog muss den neuen diplomatischen Herausforderungen Rechnung tragen und versuchen, gemeinsame langfristige Visionen und Ansätze für den eurasischen Kontinent zu entwickeln. Nur durch klare Strategien wird es Deutschland und Frankreich gelingen, nicht mehr nur reaktiv, sondern aktiv an der Gestaltung des „neuen Europa“ mitzuwirken.
*) Jean-Pierre Froehly leitet die Arbeitsstelle Frankreich im Forschungsinstitut der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), Berlin. Vorliegende Ausführungen stellen die überarbeitete Version eines Referates des Autors auf einem Studienseminar des Centre d’Etudes et de Recherches Internationales (CERI) der FNSP-Sciences Po in Paris im Juni 2000 dar.
1) Das Konzept wurde seit 1998 in der Arbeitsstelle Frankreich/deutsch-französische Beziehungen der DGAP entwickelt und wird ab Herbst 2000 durch Zusammenarbeit mit dem Centre d’Analyse et de Prévision (CAP) des französischen Außenministeriums konkrete Anwendung finden. Siehe auch grundlegend
Jean-Pierre Froehly : Der „neue“ deutsch-französische Dialog. Abstimmung in der europäischen Außenpolitik, in: „Internationale Politik“, Nr.9/1998; Jean-Pierre Froehly : Le nouveau bilatéralisme en politique étrangère (Veröffentlichung demnächst).